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Mein Kind stottert – was kann ich tun?

Stottern ist eine auffällig häufige Unterbrechung im Redefluß. Mit „auffallend häufig“ soll verdeutlicht werden, daß nahezu jeder Sprecher Unterbrechungen hat, aber nur in einem Ausmaß, daß der Zuhörer diese nicht als Ausdruck eines Stotterns wertet, sondern eher als Zeichen einer Unsicherheit des Sprechers gerade in dieser Situation. Die Häufigkeit solcher Sprechunflüssigkeiten, die der Zuhörer noch als normal bewertet, ist ganz entscheidend vom Alter des Sprechers abhängig. Bei sehr jungen Sprechern, also zwei-, drei- und vierjährigen Kindern, werden mehr Unterbrechungen in Form von Wort- und Satzteilwiederholungen sowie Satzabbrüchen neuen Formulierungsversuchen akzeptiert als bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Da etwa 80 % aller Kinder eine mehr oder weniger lange Phase von Entwicklungsunflüssigkeiten (= physiologisches Stottern) von wenigen Wochen, mehreren Monaten oder gar zwei bis drei Jahren durchmachen, von diesen aber nur etwa 5 % einen Verlauf in ein chronisches Stottern aufweisen, von denen wiederum noch vier im späteren Kindes-, Jugendlichen- oder frühen Erwachsenenalter flüssig werden, stellt sich bei jedem unflüssig sprechenden Kind zuerst die Frage, ob es nur ein Entwicklungsstottern hat oder ob ein überdauernder chronischer Verlauf droht. Für diese wichtige Entscheidung können von Nichtfachleuten – Eltern, Haus- und Kinderärzte – folgende Bedingungen herangezogen werden, wobei zu gelten hat, daß, wenn eine oder mehrere dieser Bedingungen bei einem Kind zutreffen, ein Spezialist für Kinderstottern – Phoniater, Logopäde, Sprachheilpädagoge, Psychologe – herangezogen werden sollte:

DAUER. Die Unflüssigkeiten des Kindes dauern länger als 6 Monate an.

VERLAUF. Das Stottern des Kindes hat sich von zunächst spannungsfreien Wiederholungen zu Blockierungen weiterentwickelt. Es treten Mitbewegungen des Gesichts, des Rumpfes oder der Extremitäten auf.

ART DER SYMPTOMATIK. Es treten Dehnungen mit Tonhöhen- oder Lautstärkeanstieg und Blockierungen mit sichtbarer Anstrengung auf. Die Eltern bestätigen diese Symptomatik als charakteristisch und häufig beobachtbar.

REAKTIONEN DES KINDES. Das Kind selbst zeigt deutliche Reaktionen auf seine Redeunflüssigkeiten, z.B. verbal oder durch Abbruch einer Äußerung im Symptom, oder läßt ein Vermeiden bestimmter Laute, Wörter oder Sprechsituationen erkennen.

SPRACHENTWICKLUNG UND MUNDMOTORIK. Das Kind hat deutliche Defizite in der Sprachentwicklung oder zeigt Auffälligkeiten in der Mundmotorik.

EINSTELLUNGEN DER ELTERN. Die Eltern äußern die Überzeugung, daß das Stottern sich gefestigt hat und sich nicht mehr von allein zurückbilden wird.

FAMILIÄRE BELASTUNG. Mindestens ein weiteres Familienmitglied stottert ebenfalls.

Beantwortet der zugezogene Spezialist die Frage Entwicklungsstottern – chronisches Stottern so, daß ein günstiger Verlauf mit Rückkehr zu flüssigem Sprechen wahrscheinlich ist, wird er die Eltern und eventuell weitere wichtige Bezugspersonen bezüglich ihrer Möglichkeiten, diesen Weg des Kindes zu flüssigem Sprechen positiv zu beeinflussen, beraten und bei einem wider Erwarten doch ungünstigen Verlauf mit Überdauern des Stotterns eine Wiedervorstellung vereinbaren.

Sprechen jedoch alle Zeichen für einen chronischen Verlauf, wird er eine ursächliche und damit auch die Inhalte einer Therapie steuernde Diagnostik durchführen. Es ist nämlich heute allen Fachleuten klar, daß es die Ursache des Stotterns nicht gibt, sondern daß Stottern vielfältige (multifaktorielle) Ursachen in verschiedenen Bereichen (multimodal) haben kann, die aber bei jedem Kind ganz individuell und in unterschiedlicher Kombination vorliegen und sich über den zeitlichen Verlauf auch noch ändern können. Solche Ursachen können genetischer Natur sein, sie können in Sprachentwicklungsdefiziten begründet sein, sie können in Störungen der Sprechausführung liegen, sie können aber auch in ungünstigen Sprachvorbildern oder einem stotterfördernden Interaktions- und Gesprächsstil der Familie des unflüssig sprechenden Kindes bestehen.

Aus dieser ausschnitthaften Aufzählung möglicher Ursachen wird überdeutlich, daß die ursachenaufdeckende Diagnostik sehr umfangreich und zeitaufwendig sein muß, zumal sich aus ihr erfolgversprechende, wiederum für jedes Kind individuelle Therapieansätze ergeben. Hat ein Kind Sprach- oder Sprechentwicklungsdefizite, wird die Behandlung dort ansetzen. Eine Familie mit ungünstigem Interaktionsverhalten benötigt darin Hilfestellungen. Wenn solche die Entwicklung flüssigen Sprechens störende Faktoren aufgearbeitet sind oder gar nicht gefunden werden konnten, wird man durchaus auch schon bei einem Vorschulkind mit kindgemäßen Methoden und Inhalten an dessen Stottern direkt arbeiten.

Gegner dieses Vorgehens wenden ein, daß durch eine solchen Frühtherapie beim Kind ein Störungsbewußtsein entsteht, das das Stottern verschlimmert. Fürsprecher des frühen Behandlungsbeginns wie auch wir halten entgegen, daß mit einem solchen Vorgehen die Zahl der Stotterer im späteren Erwachsenenalter deutlich gesenkt werden kann.

(Helge S. Johannsen, Andrea Häge und Dieter Rommel)

Literatur

P. Fiedler, R. Standop: Stottern. Ätioloige, Diagnose, Behandlung. Psychologie-Verlags-Union, München, 1992.

H. Schulze, H.S. Johannsen: Stottern bei Kindern im Vorschulalter. Theorie – Diagnostik – Therapie. Verlag Phoniatrische Ambulanz der Universität Ulm, 1986.

H. S. Johannsen, H. Schulze (Hrsg.): Praxis der Beratung und Therapie bei kindlichem Stottern. – Werkstattbericht -. Verlag Phoniatrische Ambulanz der Universität Ulm, 1993.

H. S. Johannsen, L. Springer: Stottern. Phoniatreische Ambulanz der Universität Ulm, 1993

U. Natke: Stottern. Erkenttnisse, Theorien, Behandlungsmethoden. Huber, Bern, 2000.

W. Wendlandt. Non-Avoidance-Prinzipien in der Therapie des Stottern. In: M. Grohnfeldt (Hrsg.): Störungen der Redefähigkeit. Handbuch der Sprachtherapie, Bd.5. Edition Marhold, Berlin, 1992, 425-445.