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Was sind myofunktionelle Störungen bzw. orofaziale Dysfunktionen und was haben sie mit der Hör- und Sprachentwicklung meines Kindes zu tun?

Myofunktionelle Störungen (MFS) wurden von Garliner (1982) als Bewegungsstörungen (motorische Störungen) von Gesicht, Lippen, Zunge, Gaumensegel und Rachen definiert. Es sind überwiegend Kinder und Jugendliche davon betroffen. Man beobachtet u.a. folgende Symptome:

– Kiefer und Mund sind überwiegend geöffnet, die Kinder atmen meist durch den Mund, auch im Schlaf.
– Die Zunge liegt zwischen den Frontzähnen im gleichzeitig geöffneten Kiefer.
– Die Lippen sind feucht und glänzend häufig.
– Die Lippen sind wulstig verdickt.
– Die Oberlippe weist einen Bogen nach oben hin, d.h. zur Nase, auf.
– Die Unterlippe ist etwas nach unten umgeschlagen.
– Die Kinder haben schädliche Angewohnheiten (sog. Habits), wie z.B. den ständigen Gebrauch eines Schnullers, Daumenlutschen, Lippenbeißen oder Nägelkauen.

Die Ursachen dafür sind nach heutiger Lehrmeinung erstens in strukturellen bzw. anatomischen Veränderungen zu suchen, z.B. vergrößerte Rachen- und/oder Gaumenmandeln, Lippen-, Kiefer- und/oder Gaumenspalten, verkürztes Zungenbändchen. Zweitens sind die Ursachen in entwicklungsphysiologischen und neurogenen Störungen zu suchen, wie z.B. Infantilen Zerebralparesen (CP).

Wichtigste negative Folgeerscheinungen sind (Tränkmann 1997):

– Störungen des Zahnwachstums (z.B. schief)
– Störungen des Zahnwechsels (z.B. verzögert)
– Bleibende Zähne finden keinen Platz im Kiefer und müssen gezogen werden.
– Störungen des Kieferwachstums, die mit kieferorthopädischen Geräten behandelt werden müssen (z.B. Klammer, Brackets, Bänder)

Bei unbehandelten älteren Kindern und Jugendlichen bildet der aufsteigende Unterkieferast einen stumpfen Winkel mit dem horizontalen Kieferast, das Gesicht ist schmal und länglich geformt, manchmal „fliehendes Kinn“.

Weil die betroffene Motorik maßgeblich an der Sprachlautformung, d.h. an der Bildung von Vokalen und Konsonanten, beteiligt ist, haben Kinder mit MFS häufig phonetische Störungen. Darunter versteht man Aussprachestörungen bzw. Sprechstörungen. Bei Störung der Zungenmotorik wäre z.B. ein Lispeln (Sigmatismus) zu erwarten (Bigenzahn 1995).

Neu ist die Erkenntnis, daß MFS unter Umständen auch Sprachstörungen, also Störungen mehrerer sprachlicher Ebenen verursachen können, z.B. Sprechstörung plus Störung des Satzbaus plus Fehler der Grammatik plus eingeschränkter Wortschatz Schönweiler 1999, 2000). Solche Störungen lassen sich nicht wie die phonetischen Störungen mit direktem Bezug zur gestörten orofazialen und oropharyngealen Motorik erklären, sondern über den Umweg einer leichten Hörstörung. Diese Hörstörung entsteht durch Tubenbelüftungs-störungen bzw. Mittelohrbelüftungsstörungen mit und ohne Paukenergüsse (Abb.1).

Abb. 1: Ohrmikroskopische Befunde bei annähernd normalem Trommelfell (links) und „Paukenerguß“ (rechts), eine sichtbare Schleimbildung im Mittelohr. Sie erkennen die gegenüber einem normalen Trommelfell gelbliche Verfärbung, die ereiterten und deshalb sichtbaren Gefäße und die Vorwölbung des Trommelfells.

Ein Paukenerguß dämpft die akustischen Schwingungen von Sprachinformation ganz erheblich. Diese lassen sich natürlich durch eine gestörte velare und pharyngeale Motorik zwanglos erklären. Tubenbelüftungsstörungen bzw. Mittelohrbelüftungsstörungen dämpfen die akustischen Schwingungen der Sprache (Abb.2). Bei einer Impedanzkurve Typ B, ein abgeflachter Kurvenverlauf, der in der Regel einem Paukenerguß entspricht, müssen wir von einem mittleren Hörverlust von 31 dB ausgehen (Schönweiler 1998). Das entspricht recht genau einem Hörverlust, den Sie bei (z.B. mit Fingern) fest verschlossenen Gehörgängen erleben können (selbst ausprobieren!). Impedanzkurven Typ C1 und C2, entsprechen einem eingezogenen Trommelfell, verursachen immer noch eine Hörstörung von 17-21 dB. Das können Sie sich vorstellen, wenn Sie Ihre Gehörgänge leicht verschließen.

Abb. 2: Verteilung der Hörverluste für verschiedene Mittelohrimpedanzbefunde, nach Schönweiler und Mitarb. [1998]. m = mittlerer Hörverlust. Kurven: Typ A = normale Impedanz oder leichter Unterdruck bis 150 daPa, Typ B = flacher Kurvenverlauf (spricht für Sekret im Mittelohr), Typ C1 = mäßiger Unterdruck im Mittelohr bis maximal 150 daPa, Typ C2 = starker Unterdruck im Mittelohr über 150 daPa (daPa = Deka-Pascal, eine SI-Einheit für Luftdruck)

Was bedeutet das z.B. für die phonologische Sprachebene? Dazu ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich eine typische Schalleitungsschwerhörigkeit mit einer Knochenleitungs-Luftleitungsdifferenz von nur 20 dB vor (Abb.3). Dabei können die Formanten einiger Sprachlaute (im Beispiel k, f und s) bereits unterhalb der Hörschwelle liegen. Sie werden überhaupt nicht wahrgenommen und folglich nicht korrekt erlernt.

Abb. 3: Vokal- und Konsonantformanten der deutschen Sprache, modifiziert nach Northern & Downs [1984]. Bei geringgradiger Schwerhörigkeit liegen wichtige Sprachformanten (z.B. k, f und s) permanent unterhalb der Hörschwelle und werden nicht wahrgenommen. Bei zusätzlichen Störgeräuschen werden weitere Formanten (z.B. für die Konsonanten p, h und g) maskiert.

Und wenn die Hörstörung jetzt wechselt, also mal vorhanden ist und dann wieder für einige Zeit verschwindet, können viele Sprachlaute die sprachverarbeitenden Rindenfelder nicht mit der für Sprachlernen erforderlichen zeitlichen Konstanz und Signalqualität erreichen. Wir sagen: das Langzeithörvermögen und die Jahreshörbilanz ist eingeschränkt (Schönweiler 1998).

Noch schlimmer wird es, wenn jetzt noch Störgeräusche hinzukommen, mit denen im Alltag ständig zu rechnen ist. Dann werden weitere Formanten akustisch verdeckt, z.B. für die Konsonanten p, h und g. Auch diese Formanten liegen dann unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und können nicht korrekt erlernt werden.

Bei Schalleitungsschwerhörigkeiten ist im Gegensatz zu Schallempfindungsschwerhörigkeiten (z.B. Innenohrschwerhörigkeiten) zu bedenken, daß Eigengeräusche durch Kauen, Schlucken und Atmung über Knochenleitung das Innenohr ungemindert erreichen, während die Sprache aus der Umgebung um 15-30 dB gedämpft wird. Und so vermindern Schalleitungsschwerhörigkeiten den Signal-Störgeräuschabstand ein weiteres Mal, was aus einem Audiogramm überhaupt nicht hervorgeht. Schalleitungsschwerhörigkeiten sind also schlimmer als viele meinen.

Für die lexikalische Ebene bedeuten Schalleitungsschwerhörigkeiten, daß Kinder neue Worte und Begriffe aus eine Entfernung nicht mehr ausreichend oft und in ausreichender Signalqualität mitbekommen und auch nicht in den Wortschatz aufnehmen. Für die grammatikalische Sprachebene bedeuten Schalleitungsschwerhörigkeiten ein Nichtwahrnehmen unbetonter und deshalb zu leiser Endungen. So kann sich ein Dysgrammatismus entwickeln. Die semantische und pragmatische Ebene kann gestört werden, wenn der Kontext der sprachlichen Umgebung fehlerhaft wahrgenommen wird. Deshalb ist die Behandlung geringgradiger, wechselnder und wechselseitiger Hörstörungen bei Kindern dringend erforderlich.

Da MFS überwiegend sich entwickelnde Kindern betreffen und nicht Erwachsene, arbeiten wir im Prinzip immer gegen die Zeit. Deshalb sollte man nicht zu lange mit konservativen Behandlungsversuchen vergeuden, wenn sie nicht zum Dauererfolg führen. Darum empfehlen wir eine konsequente, auch operative Sanierung der Mittelohrbelüftung, besonders, wenn die Kinder schon sprachgestört sind.

Dazu gehören: die Entfernung der Rachenmandel (Adenotomie, ausgenommen Kinder mit Gaumenspalten!), die Paracentese und ggf. die Einlage von Paukenröhrchen. Eine Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomie) wird besonders dann erforderlich, wenn der sog. innere Funktionskreis gestört ist und die Gaumenmandeln ein Artikulationshindernis für palatale und velare Konsonanten darstellen (z.B. k, ch, j, r).

Um es nochmal auf den Punkt zu bringen: MFS führen führen nicht nur zu Sprechstörungen und anderen Störungen, die sonst im Vordergrund stehen, sondern durch Einschränkungen der velaren und pharyngealen Motorik auch zu einer gestörten Mittelohrbelüftung mit wechselnden und wechselseitigen Schalleitungsschwerhörigkeiten. Über diesen „Umweg“ lassen sich zumindest bei einem Teil der Kinder (um 6 %) zusätzlich zu Sprechstörungen vorhandene Sprachstörungen schlüssig erklären.

Myofunktionelle Störungen kündigen sich oft schon im Säuglings- oder Kleinkindalter an. Und deshalb sollten sie so früh wie möglich erkannt und behandelt werden, um nachfolgende Hör- und Sprachentwicklungsstörungen zu vermeiden. Dazu können Phoniater und Pädaudiologen durch ihr Wissen um die geschilderten Zusammenhänge und ihre besondere Erfahrung mit kindgerechten endoskopischen, audiometrischen, sprech- und sprachbefundlichen Verfahren beitragen.

(R. Schönweiler)

Literatur

Garliner D. Myofunktionelle Therapie in der Praxis; gestörtes Schluckverhalten, gestörte Gesichtsmuskulatur und die Folgen- Diagnose, Planung und Durchführung der Behandlung. München: Verlag zahnärztliches Schrifttum (Karteidienst-Verlag Willi Schmitt), 1982

Tränkmann J. Ätiologie, Genese und Morphologie dyskinesiebedingter Dysgnathien. Sprache Stimme Gehör 1997; 21: 152-160

Bigenzahn W. Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter. Grundlagen, Klinik, Ätiologie, Diagnostik und Therapie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 1995

Schönweiler R, Radü HJ, Ptok M. A cross-sectional study on speech and language outcome of children having normal hearing, mild fluctuating conductive hearing loss of bilateral profound hearing loss. Int. J. Pediatr. Otorhinolaryngol. 1998; 44: 251-258

Schönweiler R, Lisson JA, Schönweiler B, Eckardt A, Ptok M, Tränkmann J, Hausamen JE. A retrospective study of hearing, speech, and language function in children with clefts following palatoplasty and veloplasty precedures at 18-24 months of age. Int. J. Pediatr. Otorhinolaryngol. 1999; 50: 205-217

Schönweiler R, Schönweiler B, Radü HJ, Ptok M. Myofunktionelle Störungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Hör- und Sprachentwicklung. Sprache Stimme Gehör 2000, im Druck